Volkstrauertag für Frieden und Völkerverständigung 2025 am 16. November in der Wilhelm-Leuschner-Schule.

    Volkstrauertag am 16.11.25 in der WLS

    Volkstrauertag 2025 NachlesE

    Hauptrede von Professor Dr. Hein

    Wir begehen heute wie in jedem Jahr den Volkstrauertag. Kann ein Volk, kann eine Gesellschaft über die eigene Geschichte trauern? Sicher nicht in der Weise, wie ein einzelner Mensch trauert, dem Schlimmes zugestoßen ist. Aber doch so, dass wir innehalten und uns der Erinnerung an finstere Zeiten stellen. Unser Gedenken ist Ausdruck unserer Trauer.

    Wir dürfen niemals vergessen, was geschehen ist. Denn wer vergisst, verliert seine Orientierung. Erinnerung ist das Gewissen einer Gesellschaft. Sie hält uns wach und bewahrt uns davor, das Leid der Vergangenheit als erledigt zu betrachten.

    Deshalb gedenken wir der Millionen Männer, Frauen und Kinder, die Opfer von Krieg, Gewalt, Verfolgung und Terror wurden. Wir erinnern an die Soldaten, die ihr Leben lassen mussten, und an die Bevölkerung, deren Zukunft in den Trümmern der zerstörten Städte begraben lag. Wir denken an Familien, die nie mehr vollständig sein würden, an Hoffnungen und Träume, die viel zu früh endeten. Wir erinnern an die Millionen, die nicht heimkehrten, an die, die ermordet wurden, weil sie Juden waren, weil sie Roma waren, weil sie Menschen mit Behinderung waren, weil sie anders dachten, liebten oder glaubten.

    Blicken wir zurück auf die Jahre der beiden Weltkriege, in denen die Menschlichkeit versagte und die Welt in Dunkelheit versank, dann wird uns bewusst: Kriege brechen niemals von selbst über uns herein. Sie sind keine Naturkatastrophen. Sie werden geplant von denen, die ihre Macht ausspielen und ausweiten wollen. Aber für diejenigen, die davon betroffen sind und darunter zu leiden haben, sind sie nichts anderes als ein tiefes Unglück. Am Ende hinterlassen Kriege auf allen Seiten nur Opfer!

    Der Volkstrauertag ist kein Tag der Vergangenheit, wie manche meinen: Er ist ein Tag der Mahnung für unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Denn die Geschichte ruht nicht still. Sie fordert uns immer wieder heraus zu eigener Haltung und zu eigenem Handeln. Sie sagt uns: Lernt aus dem, was war, damit nicht noch einmal geschieht, was nie wieder geschehen darf. Unsere Erinnerung an die Schrecken der beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts ist darum eine Verpflichtung. Der Firnis der Zivilisation ist dünn, wenn Hass, Gier und Machtstreben die Menschlichkeit verdrängen.

    Wir erinnern uns. Und wir bekennen: Unsere Verantwortung für den Frieden endet nie!

     

    Lange Zeit glaubten wir in Europa, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ein Zeitalter des ewigen Friedens einläuten zu können. Schon der Balkankrieg im zerfallenden Jugoslawien lehrte uns das Gegenteil. Heute, im Jahr 2025, leben wir wieder in einer Welt, in der Krieg die Nachrichten prägt. Der Krieg ist zurück in Europa – mitten unter uns, zwei Flugstunden von Deutschland entfernt.

    Vor dreieinhalb Wochen war ich in der Ukraine – in Transkarpatien, also im Westen des Landes. Das ist eine Gegend, die bislang weitgehend von direkten Luftangriffen verschont blieb. Und doch: Selbst dort ist der Krieg allgegenwärtig. In den Städten zeigen Tafeln die Gesichter der getöteten Männer. Auf jedem Grab eines gefallenen Soldaten weht die ukrainische Flagge. Es sind viele! Und wer zwischen 25 und 60 Jahren nicht zum Militärdienst eingezogen werden will, flieht entweder nach Ungarn oder Rumänien oder hält sich im Land versteckt.

    Ein Mann, den wir aufsuchten, um ihm Essen zu bringen, hält den ganzen Tag die Tür seines kleinen Häuschens verschlossen und traut sich nicht auf die Straße. Er könnte von Feldjägern aufgegriffen und rekrutiert werden. Und das, obwohl er auf beiden Augen grauen Star hat und nur noch wenig sieht. Aber eine Augenoperation ist zu teuer, und er traut sich ohnehin nicht in die Augenklinik. Denn würde er wieder sehen können, wäre es für ihn erst recht gefährlich.

    Die Angst vor russischen Drohnen und Gleitbomben ist auch im Westen der Ukraine allgegenwärtig. Sie liegt wie ein unsichtbarer Schatten über dem Land – einem Land im Kriegszustand. Bis heute, so berichten die Vereinten Nationen, sind in der Ukraine mehr als 13 000 Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden. Die Zahl der getöteten ukrainischen Soldaten liegt nach Schätzungen zwischen 60 000 und 100 000 – und das Leid der Verwundeten, der Verschleppten, der Vertriebenen lässt sich kaum in Zahlen fassen.

    Und um die russische Seite nicht zu vernachlässigen: Laut einer Meldung des britischen Verteidigungsministeriums vom Oktober 2025 wird geschätzt, dass Russland insgesamt seit dem Beginn der Vollinvasion etwa 1.118.000 Gefallene, Verwundete, Vermisste und Gefangene zu beklagen hat – eine erschütternde Zahl, die zeigt, wie grenzenlos zerstörerisch dieser Krieg ist.

    Aber ich begegnete in der Ukraine auch Freiwilligen, die notleidende Menschen mit dem Allernötigsten versorgen. Mit Konfirmandinnen und Konfirmanden einer reformierten Kirchengemeinde habe ich an einem Nachmittag vierhundert Weihnachtspakete packen können, die wichtige Nahrungsmittel wie Mehl, Zucker, Reis, Linsen, Öl und ein paar Süßigkeiten enthielten – genug, um die Adventszeit zu überleben. Das Geld dafür stammte aus Deutschland. Da spürte ich: Wenn wir füreinander da sind, bleibt die Humanität am Leben.

    Einen jungen Pfarrer, der hervorragend Deutsch sprach, weil er in Oldenburg ein Soziales Jahr absolviert hatte, fragte ich, warum er angesichts des Krieges nicht längst mit seiner Familie geflohen sei. Er antwortete mir ohne zu zögern: Weil das hier meine Heimat ist! Diesen Satz hätte er nicht gesagt, würde er keine Hoffnung haben.

    Die Begegnungen und Eindrücke aus einem Land im Kriegszustand haben mich tief bewegt und beschäftigen mich immer noch. Sie zeigen mir: Frieden ist nicht etwas, das man ein für allemal hat, sondern eine ständige, oft mühevolle Aufgabe.

     

    Und dabei ist die Ukraine nicht das einzige Land, in dem Menschen leiden. Auch im Nahen Osten sind ungezählte Menschen seit dem Überfall der Hamas auf Israel und der israelischen Bombardierung und Besetzung des Gazastreifens getötet worden. Die Vereinten Nationen sprechen inzwischen von über

    50.000 Toten und mehr als 100.000 Verletzten – die meisten von ihnen Zivilisten, darunter viele Kinder. Es ist eine Spirale aus Gewalt, Gegengewalt und Verzweiflung, die kaum durchbrochen zu werden scheint.

     

    Im Sudan tobt ein Bürgerkrieg, der zu den schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit gehört – und doch fast vergessen wird. Mehr als 3.000 Zivilistinnen und Zivilisten sind allein in diesem Jahr getötet worden; Millionen Menschen sind auf der Flucht, ganze Städte liegen in Trümmern. Die Welt schaut hin, aber oft zu spät, zu zögerlich, zu erschöpft, zu abgestumpft.

    Da spüren wir, dass der Volkstrauertag mehr ist als eine stille Erinnerung an eine Vergangenheit, die viele Jahrzehnte zurückliegt. Er ist ein Tag der Verantwortung. Denn wir gedenken auch der Opfer der Gegenwart: der Toten von Mariupol, Butscha oder Charkiw, der Menschen in Gaza und im israelischen Süden, die ihre Liebsten verloren, der Getöteten, Verschleppten und Verhungernden im Sudan.

    Gedenken heißt: Wir geben ihnen einen Namen. Wir bewahren ihr Leid im Gedächtnis der Welt. Denn wo die Erinnerung fehlt oder verdrängt wird, beginnt die Gleichgültigkeit. Und wo die Gleichgültigkeit herrscht, ist die Barbarei nicht fern.

    Wenn wir angesichts all dieser aktuellen Kriege von Frieden reden, mögen viele an Diplomatie, an große Konferenzen, an internationale Verhandlungen denken. Doch der Frieden fängt anderswo an: bei uns selbst!

    Er beginnt in den Worten, die wir wählen. In der Art und Weise, wie wir einander zuhören. In der Haltung, mit der wir dem Fremden begegnen. In der Bereitschaft, uns selbstkritisch zu fragen, ob wir gerecht, offen und geduldig sind.

    Unsere Welt ist laut geworden – voller Wut und Hass in den Sozialen Medien, voller Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen und ihren gewählten Vertreterinnen und Vertretern, voller Angst, zu den Verlierern zu gehören. Da braucht es Menschen, die es aushalten, leise zu bleiben, ohne deshalb zu schweigen. Menschen, die Halt geben, ohne zu verhärten. Menschen, die nicht schreien, sondern verstehen wollen.

    Denn der Frieden wächst aus Menschlichkeit. Aus der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Und aus der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

    Viele werden jetzt fragen: „Was kann ich denn machen?“ Und meine Antwort lautet: Mehr, als wir denken.

    • Wir können tatkräftig helfen: durch die Unterstützung von Hilfsorganisationen oder durch Spenden.
    • Wir können uns informieren, damit die Wahrheit nicht von der Lüge verdrängt wird.
    • Wir können aufmerksam zuhören, damit die Trauer nicht in Einsamkeit endet.
    • Wir können miteinander reden: respektvoll, ehrlich, offen.
    • Wir können wählen gehen, damit Freiheit und Demokratie geschützt bleiben.
    • Wir können (wie hier in der Wilhelm-Leuschner-Schule) junge Menschen motivieren, sich mit den finsteren, friedlosen Zeiten unserer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
    • Und wir können unseren Kindern vorleben, was Frieden bedeutet – nämlich eine bewusste Haltung, die wir miteinander einüben: Vertrauen statt Angst, Verantwortung statt Gleichgültigkeit, Humanität statt Ausgrenzung.

    Der Frieden beginnt im Kleinen – in unseren Städten und Gemeinden, in unseren Vereinen und Verbänden, in unseren Schulen und Familien. Wo Menschen füreinander einstehen, da gibt es Hoffnung. In Niestetal wie überall.

    Als ich die Ukraine verließ, sagte mir eine junge Frau: „Vergesst uns nicht. Wir brauchen Menschen, die an uns denken.“ Dieser Satz begleitet mich seither. Er zeigt uns, dass Mitgefühl keine Grenzen kennt, dass Frieden nicht ohne Solidarität bestehen kann und dass Gedenken keine Rückschau ist, sondern unseren Blick nach vorn lenkt.

    Heute gedenken wir. Wir fühlen mit den Opfern von gestern und mit denen von heute. Doch morgen – morgen handeln wir und tragen zum Frieden in unserer zerrissenen Gesellschaft bei, was wir beitragen können. Da zählt jede Geste, jedes Wort, jede Tat.

    Wenn Sie einen einzigen Satz aus meiner heutigen Rede mit nach Hause nehmen, dann bitte diesen: Der Frieden beginnt bei mir selbst!

    Wir ehren die Toten, indem wir für die Lebenden einstehen. So wächst aus dem Gedenken Verantwortung, aus der Trauer Mitgefühl, aus der Gegenwart Zukunft. Dazu helfe uns Gott!

     

    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

     


    PROGRAMM
    FÜR DEN FRIEDEN UND DIE VÖLKERVERSTÄNDIGUNG

    Sonntags-Gottesdienst
    Ab 10.00 Uhr

    Gottesdienst mit musikalischer Untermalung
    Gehalten von Pfarrerin Schäfer aus Heiligenrode

    Volkstrauertag
    Ab 11.00 Uhr


    Begrüßung » Schulleiterin (m.d.W.d.A.b.) der Wilhelm-Leuschner-Schule, Frau Homann, heißt alle Anwesenden willkommen und gibt einen Ausblick auf die Themen der Veranstaltung und den Beitrag der WLS

    Beitrag der Schule » Schülerinnen und Schüler der WLS stellen die Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Die Gruppe setzte sich mit dem Leben der Wilhelmine Pötter auseinander, mit dem Thema Stolpersteine und dem besonderen Projekt der "Zeitkapsel" in der Erinnerungen der Vergangenheit für eine neue Generation gesammelt und aufbereitet werden sollen.
    Melden Sie sich gern bei uns, wenn auch Sie Geschichten und Erlebnisse (z.B. aus der Kriegszeit) mit uns teilen möchten.

    Hauptrede » Prof. Dr. Martin Hein, ehemaliger Bischof von Kurhessen-Waldeck, spricht über das Thema "Friedensarbeit und die Verantwortung der Gesellschaft".

    Abschluss » Bürgermeister Marcel Brückmann schließt die Veranstaltung in der WLS und leitet über auf die Anschlusstermine, zudem wird das Totengedenken verlesen.

    GLEICHZEITIGE TERMINE IM Anschluss


    KRANZNIEDERLEGUNG » Friedhof Heiligenrode & Sandershausen sowie dem Gedenkstein am Schwalbesberg


    SPENDENAUFRUF

    Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

    Bankverbindung
    Commerzbank Kassel
    IBAN: DE23520400210322299900
    Zweck: Niestetal25

    Spendentelefon
    Nummer: 0561 700 90

    Vergangene Termine:

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